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mm_ebooks_05_2017

FACETTEN INTERNATIONAL „Die schweigende Mehrheit macht mir Angst“ Am 15. August feiert Indien 70 Jahre Unabhängigkeit – wo steht das Land heute? Ein Gespräch mit dem Jesuiten und Menschenrechtsaktivisten Cedric Prakash. Hat Indien seine koloniale Ver- gangenheit 70 Jahre nach seiner Unab- hängigkeit überwunden? Eine koloniale Macht besetzt ein Land ja nicht, weil es die Menschen oder das Land selbst so sehr schätzt. So war es auch bei den Briten. Sie kamen nach In- dien wegen der Baumwolle, der Ge- würze und den Bodenschätzen. Indien wurde bis zum Abwinken ausgebeutet. Dank unserer Widerstandskämpfer wie Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru oder Vallabhbhai Patel konnten wir uns vor 70 Jahren aus diesen Fängen be- freien. Das bedeutet aber nicht, dass wir das Joch der Ausbeutung überwunden haben. Wie meinen Sie das? Die Strukturen der Ausbeutung sind ge- blieben. Heute leben wir in einem Neo- kolonialismus, in dem die Reichen und Mächtigen über den Rest herrschen. Auch die aktuelle Regierung stammt aus dieser Gesellschaftsschicht. Dennoch hat es Indien geschafft, unter- schiedlichste Kulturen und Religionen weitestgehend friedlich zu vereinen ... Ja, es gab einige bemerkenswerte Errun- genschaften nach der Unabhängigkeit. Zum Beispiel unsere Verfassung, die für jeden einzelnen Bürger geschrieben wurde und auf den Werten der Gerech- tigkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüder- lichkeit basiert. Dass in Indien aber alle friedlich leben können, wird heute leider mehr und mehr zum Mythos. Wen sehen Sie denn in Gefahr? Die Regierung um Narendra Modi ist eine Bedrohung für alle Minderheiten im Land. Es wird öffentlich Stimmung ge- gen Muslime und Christen gemacht. Es gibt das sogenannte „ghar wapsi“-Pro- gramm (Heimkehr-Programm), das Men- schen, die zum Islam oder Christentum konvertiert sind, zwingt, wieder Hindu zu werden. Dazu kommt ein Gesetz, das besagt, dass jeder, der zu einer anderen Religion konvertieren will, eine offizielle Genehmigung benötigt. Dieses Gesetz ist ein klarer Verstoß gegen Artikel 25 unserer Verfassung, nach dem jeder frei über seine Religionszugehörigkeit be- stimmten darf. Wie wirken sich solche Beschlüsse auf das Leben der Menschen aus? Die nationalkonservativen Kräfte, die der zeit an der Macht sind, zerstören die wert volle säkulare Struktur und die Viel- falt unse res Landes. Menschen werden in Selbst justiz gelyncht, weil ihnen vor- ge worfen wird, Rindfleisch gegessen zu ha ben. Diese Extremisten, die von der Regierung gestützt werden, wollen da- rauf Einfluss nehmen, was du isst, wie du dich kleidest, was du liest und an was du glaubst. Religiöse Minderheiten, aber auch Angehörige der niederen Kasten und Adivasis werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Zu den Privilegierten gehören die oberste hinduistische Kas te und diejenigen, die eine fundamentali- stische Ideologie vertreten. Wie hoffnungsvoll blicken Sie in Indiens Zukunft? Ich bin trotz allem sehr hoffnungsvoll. Ich sehe nach wie vor die Tatsache, dass Indien eine großartige Nation mit einem reichen Schatz an Kulturen, an Ge- schichte und an verschiedenen Glau- benserfahrungen ist. Ich glaube auch, dass ein Großteil der Menschen an die- ses Indien glaubt und es so bewahren möchte. Ich würde mir aber wünschen, dass mehr Menschen dafür eintreten. Was mir Angst macht, ist die schwei- gende Mehrheit. A STEFFI SEYFERTH t a v i r p : s o t o F ZUR PERSON: Cedric Prakash, 1951 in Bom- bay geboren, ist ein indischer Menschenrechts- aktivist und Jesuitenpriester. 2001 gründete er in Gujarat „Prashant“ – ein Zentrum für Menschen- rechte, Gerechtigkeit und Frieden. Prakash ist ei- ner der größten Kritiker der hindu-nationalisti- schen Partei BJP, der auch der aktuelle Premier- minister Narendra Modi angehört. Für seinen Ein- satz für Menschenrechte erhält er immer wieder Anerkennung aus dem In- und Ausland. Seit 2016 lebt Prakash in der libanesischen Hauptstadt Bei- rut, um dort für den Jesuitenflüchtlingsdienst zu arbeiten. Regelmäßig ist er auch in Syrien unter- wegs, um den Menschen dort zu helfen. 10 | missio 5/2017

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