Wie war diesen Familien die Flucht aus Mossul gelungen? Als die IS-Leute kamen, waren diese zu- nächst gar nicht alle als Radikale zu er- kennen. Sie gaben sich friedfertig. Aber plötzlich verkündeten sie den Christen und den anderen Minderheiten: „Wenn ihr in Mossul bleiben wollt, dann müsst ihr zum Islam übertreten und eine Son- dersteuer zahlen. Oder ihr geht weg, sonst werdet ihr umgebracht. Ihr habt drei Tage Zeit.“ Sie nahmen ihnen alles weg, bis auf die Kleidung, die die Menschen noch an- hatten. Angst, Bedrängnis, Flucht – das ist schlicht und einfach die Geschichte der Christen im Nahen Osten. Planten auch Sie Ihre Flucht, oder konnt- nen Sie sich im Kloster etwas sicherer fühlen? Ich musste zwei Tage aus dem Kloster weggehen, weil ich unsere Heiligtümer in Sicherheit bringen musste: antike Schrift- rollen zum Beispiel, und wertvolle Reli- quien, die Knochen des Heiligen Matt - häus. Wir mussten damit rechnen, dass der IS auch bis zu uns vorrücken würde, und wollten deshalb diese Dinge retten. Wann erreichten die Islamisten das Kloster? Zwischen uns und dem „Islamischen Staat“ lagen nur noch vier Kilometer. Sie hätten uns jederzeit angreifen können, und etwa zwei Mal pro Woche taten sie das auch. Sie versuchten die Front der kurdischen Peschmerga zu durchbrechen, meistens dann, wenn schlechtes Wetter war, weil sie dachten, dass sie bei Regen oder Nebel unbeobachtet vorrücken könn ten. Aber sie scheiterten jedes Mal – Gott sei Dank. Die Flugzeuge der interna- tionalen Koalition haben sie aufgehalten. Und wie schätzen Sie die Lage aktuell ein? Nach der Befreiung hofften wir wirklich das Beste. Die Frage ist aber jetzt, was in Zukunft mit der Ninive-Ebene geschehen wird. Ein Teil davon ist unter der Verant- wortung der irakischen Armee, der an- dere Teil unter der kurdischen Regierung. Zumindest, bis zum kurdischen Referen- dum, in dem Kurdistan für die Unabhän- gigkeit stimmte. Wenn Kurdistan sich vom Irak abspaltet, was bedeutet das dann für unsere Zukunft? Heißt das, dass k r a t S z t i r F : s o t o F „DIE MENSCHEN FRAGEN UNS: KÖNNT IHR UNS VERSPRECHEN,N DASS WIR IN SICHERHEIT SIND? ICH KANN ES NICHT VERSPRECHEN.“N die Ninive-Ebene gespalten wird? Brau- chen wir dann ein Visum, um von der ei- nen christlichen Stadt in die andere zu reisen? Wir hoffen wirklich, dass die Ni- nive-Ebene als einheitliches Gebiet erhal- ten bleibt. Schließlich ist das der histori- sche Ursprung unserer Christenheit. Wie lässt sich die Region angemessen absichern? Wenn die ausländischen Staaten möch- ten, dass es weiterhin Christen im Nahen Osten gibt, dann müssen sie uns einen Grund dafür geben, dass wir hierbleiben. Ich sprach zum Beispiel mit einem jun- gen Mann aus der Stadt Bartella, der mich fragte: „Können Sie mir garantieren, dass ich in Sicherheit lebe?“ Ich sagte: „Nein“ – „Können Sie mir ein Haus ge- ben?“ – Ich sagte: „Nein.“ – „Können Sie mir einen Arbeitsplatz zusichern?“ – Ich sagte: „Nein.“ – „Also, wie können Sie von mir verlangen, dass ich im Irak bleibe?“ Wir haben keine Argumente mehr. Was erwarten Sie vom Westen? Ich wünsche mir, dass der Einfluss aus- ländischer Mächte zurückgedrängt wird. Man weiß doch, woher die Unterstützung für die Radikalen kommt: aus der Türkei, aus Katar, aus Saudi-Arabien. Wir müssen begreifen, dass es offenkundig einen Plan gibt, Christen aus dem gesamten Nahen Osten zu vertreiben. Nicht erst seit heute, sondern schon seit vielen, vielen Jahren. Ob im Libanon ab den 70er-Jahren, im Irak seit 1991, jetzt in Syrien. Und schauen Sie sich die Entwicklung in Ägypten an. Denken Sie, dass es in Zukunft wieder Christen in Mossul geben wird? Eher nicht. Das Problem ist nicht so sehr der IS als Person, sondern der IS als Ideo- logie, in den Köpfen der Menschen. Schon die kleinen Kinder haben gelernt, zu hassen, zu töten, zu zerstören. Sie ken- nen nur Bomben, nur Explosionen. Auch wenn es keine aktiven IS-Kämpfer mehr sein mögen, gibt es genug Gruppierun- gen, die ein Auge auf unsere Siedlungsge- biete geworfen haben und sie in Besitz nehmen wollen. Etwa die Shabak, eine schiitische Gruppe mit Unterstützung aus Bagdad. Sie werden auch vom Iran aus unterstützt. Umso wichtiger scheint eine christliche Präsenz in diesem Teil der Welt. Jeder weiß doch, dass wir Christen fried- lich sind. Unsere Botschaft ist Nächsten- liebe. Wir können dem Bösen nicht mit Bösem begegnen. Seit dem IS haben Tau- sende unsere Heimat verlassen. Sie leben in der Türkei, im Libanon und warten auf eine Chance, den Irak für immer zu ver- lassen. Das ist ihr gutes Recht und ihre ei- gene Entscheidung, wir können sie nicht aufhalten. Jeder hat das Recht, zu ent- scheiden, was das Beste für sich und die Familie ist. Wir, als Kirche, tun unser Bes tes, um unsere Gemeinden hierzubehalten. Es ist unser Land! Aber wir alle wissen, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind. A DAS KLOSTER MOR MATTAI Es gehört zu den ältesten Klosterbauten aus früh- christlicher Zeit: Schon seit dem 4. Jahrhundert thront das Kloster Mor Mattai über der Ninive- Ebene im Norden des Irak. Gegründet wurde es von Matthäus dem Eremiten, der sich zunächst als Ein- siedler auf dem Berg niederließ. Er war vor Verfol- gung aus dem oströmischen Reich geflohen und wird heute in den orientalischen Kirchen als Heili- ger verehrt. Während früher bis zu 7000 Mönche im Bergkloster gelebt haben sollen, sind es heute nur noch sechs. Nur rund 20 Kilometer entfernt befin- det sich die Millionenstadt Mossul, die von 2014 an vom Islamischen Staat kontrolliert wurde. Der IS zog sich erst im Frühjahr 2017 nach heftigen Kämpfen aus Mossul zurück. Tausende Zivilisten starben, weite Teile der Stadt liegen in Trümmern. missio 1/2018 | 13