„GEWALT, MISSBRAUCH UND AUSBEUTUNG WAREN NICHT DIE AUSNAHME,N SONDERN DER ALLTAG IN DEN DEUTSCHEN KOLONIEN.“N 13 missio 2/2017 | ABGRÜNDE DER KOLONIALGESCHICHTE Groß war das Aufsehen, als im Dezember des Jahres 1906 der Abgeordnete Hermann Roeren vor die Mitglie- der des Deutschen Reichstages in Berlin trat und von einem skandalösen Vorfall berichtete. Der preußische Beamte Geo Schmidt habe sich in der fernen Kolonie Togo an einer jungen Kautschukhändlerin vergangen. Außerdem sei er brutal und gewalttätig gegenüber den afrikanischen Zwangsarbeitern. Dass diese Vorfälle öf- fentlich wurden, lag am Protest der Steyler Missionare, die den Abgeordneten der katholischen Zentrumspartei informiert hatten. In ihrem Buch „Skandal in Togo“ beschreibt die Historikerin Rebekka Habermas, aus wel- chen Motiven die Beteiligten handelten. Die Professorin, geboren 1959, lehrt Geschichte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: „Diebe vor Gericht – Die Entstehung der modernen Rechtsordnung“ (2008) und „Mission global – Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert“ (2013, mit Richard Hölzl). Welche Rolle spielten die Missionare all- gemein in der Kolonie Togo? Ihre Aufgabe war natürlich primär, den christlichen Glauben zu verbreiten. Sie hatten die Vorstellung, dass sie in derAus- einandersetzung mit den Kolonialbeam- ten in jedem Fall die Rechte der Afrikaner verteidigen sollten. Sie haben sich als Sprachrohr der Afrikaner begriffen und sich als Schutzschild vor sie gestellt. Sie haben sich als Anwälte der Bevölkerung verstanden. Es darf aber nicht verschwie- gen werden, dass auch sie mit Gewalt vor- gingen, wenn sie etwa sogenannte Feti- sche zerstörten und nicht selten mit Kolo- nialbeamten zusammenarbeiteten. Warum gab es überhaupt Streit zwischen Missionaren und Beamten? In dem Maße, in dem die deutschen Ko- lonialbeamten gewalttätig vorgegangen sind, haben sie ja die Missionare als Ver- treter des Christentums in Frage gestellt. Denn wenn ich versuche, als Missionar den Glauben zu verbreiten, aber gleich- zeitig handeln die deutschen Kolonialbe- amten, die ja zumindest pro forma auch Christen gewesen sind, vollkommen an- ders, dann wird damit meine christliche Botschaft unterminiert. Den Missionaren wurde vorgeworfen, dass sie gegen deutsche Interessen han- delten. Das ist ein Vorwurf, der insbesondere die katholische Mission traf. Der „Kultur- kampf” wirkte noch nach, bei dem so- wieso der Vorwurf im Raum stand, dass Katholiken per se „Reichsfeinde“ seien. Vor dem Hintergrund war es ein leichtes zu sagen: „Ihr schlagt euch auf die Seite der afrikanischen Untertanen und seid nicht auf der Seite der deutschen Nation.“ Was auf lange Sicht wohl sogar stimmte... Wenn man sich die afrikanischen Unab- hängigkeitsbewegungen der 50er- und 60er Jahre ansieht, dann kamen fast alle, die aktiv an der Befreiung arbeiteten, aus den Missionsschulen. Fast das gesamte koloniale Schulwesen wurde von den Mis- sionaren aufgebaut. Der besondere Clou ist: Wenn Afrikaner mit christlichen Leit- ideen argumentieren, ist es für Kolonial- beamte schwerer, darauf eine Antwort zu finden, weil sie diese Ideen zumindest theoretisch selber teilen. Es ist eine Waffe, zu sagen: „Aber in eurer Bibel steht doch: Vor Gottes Angesicht sind alle gleich“. Wie reagierte die afrikanische Bevölke- rung auf den Skandal um Geo Schmidt? In den englischen Nachbarkolonien gab es ein florierendes Pressewesen. Dort sind sehr kritische Artikel über Togo erschie- nen. Das sind afrikanische Kaufleute und Missionsschüler gewesen, die unter ande- rem auch Geo Schmidt an den Pranger ge- stellt haben. In der deutschen Kolonie hatte man so viel Angst vor diesen Be- richten, dass man Hausdurchsuchungen vornahm und die Personen verhaftete, die diese Artikel in Togo verbreitet hatten. Anders als in Togo kam es in „Deutsch- Südwest“ zum blutigen Aufstand. Heute fordern die Nachkommen Entschädigun- gen. Finden Sie das gerechtfertigt? Entschädigungen sind in jeder Hinsicht berechtigt. Es ist aber eher ein juristisches Problem. Wer repräsentiert die Herero und Nama der 1904er und 1905er-Jahre? Es ist nicht unbedingt der heutige namibi- sche Staat, der sie vertreten kann, und auch nicht die Chiefs der Familien der Nachkommen. Der Herero- und Nama- Krieg sollte nicht darüber hinwegtäu- schen, dass diese Form von Gewalthaftig- keit der Alltag in den Kolonien war, und zwar in den französischen und den engli- schen auch. Ich will damit nicht den Völ- kermord-Charakter relativieren, möchte aber sagen, dass das nur die Spitze des Eisbergs des Kolonialismus gewesen ist. Müsste es also auch Entschädigungen für die Vorfälle in Togo geben? Moralisch gesehen ja. Juristisch ist das wahrscheinlich kompliziert. Ich glaube, es geht viel mehr um die Anerkennung der kolonialen Vergangenheit, und es ginge darum, zu zeigen, dass die Politik der EU bis heute teilweise durch koloniale Struk- turen geprägt wird. Welche kolonialen Strukturen sehen Sie heute noch am Werk? Diese kolonialen Praktiken, dass Euro- päer mit am Grünen Tisch ausgetüftelten Großmachtsphantasien riesige Projekte aufziehen, die davon leben, dass man Ar- beitskräfte ausbeutet und wirtschaftliche Strukturen aufbaut, die ausschließlich für den europäischen Markt geschaffen sind – es ging schon damals nur darum, dass Europa Rohstoffe aus Afrika bekommt, was mit den wirtschaftlichen Bedürfnis- sen vor Ort nichts zu tun hatte. Diese Erb- schaft ist ja nun wirklich heute mit Hän- den zu greifen. Wir müssen „Afrika retten“ heißt es oft. Was ist unsere Aufgabe? Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, erst ein- mal aus dieser Vorstellung von „Rettung“ herauszukommen. Und sich gleichwertig gegenüber zu sitzen. Ich glaube, dass heu- tige Politik wissen muss, was unser kolo- niales Erbe ist, damit sie im Kopf hat, was Afrikaner selber im Kopf haben, wenn sie es mit Europäern zu tun haben. A Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. Erschienen 2016 im S. Fischer- Verlag. 400 Seiten, 25 Euro.